Fachpersonen im Interview zum Thema Asylsuchende und Flüchtlinge in der Zahnarztpraxis

Interview mit Dr. med. dent. Alfred Wiesbauer, Aargauer Kantonszahnarzt

Dr. med. dent. Alfred Wiesbauer (60) ist seit Juli 2020 Aargauer Kantonszahnarzt in einem 50-Prozent-Pensum. Daneben ist er in seiner Praxis in Cham als Zahnarzt tätig und seit dem Jahr 2012 als begutachtender Zahnarzt für Asyl und Sozialfälle im Kanton Zug tätig. Während seiner Berufstätigkeit hat Wiesbauer den universitären Weiterbildungsausweis allgemeine Zahnmedizin SSO für eine dreijährige, strukturierte Weiterbildung in diesem Bereich sowie den Master of Public Health erlangt.


Redaktion

 

Herr Dr. Wiesbauer, Sie sind seit Juli 2020 Aargauer Kantonszahnarzt und seit dem Jahr 2012 als begutachtender Zahnarzt für Asyl- und Sozialfälle im Kanton Zug tätig. Wie sehen Sie die Entwicklungen in den letzten 10 Jahren in Bezug auf die zahnärztliche Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen?

Die Zahl der Asylsuchenden hat sich in den letzten Jahren stabilisiert – bis diesen Frühling Russland die Ukraine attackierte. Seither erlebt die Schweiz die grösste Flüchtlingswelle seit sehr langer Zeit. Rund 60’000 aus der Ukraine Geflüchtete sind inzwischen in der Schweiz eingetroffen. Die zahnärztlichen Probleme reflektieren jeweils auch die Herkunftsländer der Patienten. Bei Menschen aus Afrika und Asien ist oft die Kaufähigkeit das dringendste Problem, sie müssen genügend Zähne oder Zahnersatz haben, um essen zu können. Oft fehlt es an grundlegendem Wissen, wie die Zähne zu pflegen sind. Je näher die Patienten der westlichen Kultur sind, desto öfter sehen wir inadäquate zahnärztliche Versorgungen und stellen zu hohen Kohlenhydratkonsum bei ungenügender Mundhygiene fest. Das Wissen wäre meist vorhanden, doch die Prioritäten sind anders gesetzt. In der Tendenz über die letzten 10 Jahre ist der Gesundheitszustand der eingereisten Menschen jedoch besser geworden.

Woran können sich Zahnärzte und Zahnärztinnen orientieren, wenn es darum geht, Asylsuchende und Flüchtlinge zu behandeln bzw. die Leistungen abzurechnen?

Anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene sollen nach den Leitlinien der Vereinigung der Kantonszahnärztinnen und Kantonszahnärzte der Schweiz, VKZS, behandelt werden. Diese Leitlinien werden kontinuierlich überarbeitet und entsprechen dem aktuellen Wissensstand. Auf der Homepage www.vkzs.ch können sehr viele hilfreiche Informationen abgefragt werden. Die Struktur ist so aufgebaut, dass auch zahnmedizinische Laien Unterstützung finden. Die Leitlinien sind nicht verbindlich, sondern lassen Spielraum. Einige Kantone legen sie grosszügig aus, andere halten sich streng an die Minimalwerte. Letztlich soll für jeden Patienten eine optimale Lösung gefunden werden, mit der alle Beteiligten einverstanden sind. Wie alle anderen in der Schweiz wohnhaften Menschen müssen auch die oben genannten Personen obligatorisch eine Grundversicherung bei einer Krankenkasse abschliessen.

Sie haben die aus der Ukraine geflüchteten Menschen mit Status S bereits angesprochen. Welche Möglichkeiten haben Sie in Bezug auf die zahnärztliche Versorgung?

Zahnärztlich gesehen ist der Asylstatus S dem Status N gleichgestellt. Es dürfen nur Schmerzbehandlungen gemacht werden, keine Sanierungen. Dennoch soll eine Gesamtschau gemacht werden, sonst werden die Patienten Dauergäste im Notfalldienst. Und Stand heute wird dieser Krieg noch lange dauern, sodass viele Ukrainer auch noch lange hierbleiben werden. Immerhin haben viele Geflüchtete Freunde oder Verwandte hier, welche ihnen auch in zahnärztlichen Belangen helfen können. Auf jeden Fall soll auch eine gründliche Mundhygieneinstruktion gemacht werden. Viele Patienten haben abenteuerliche Rekonstruktionen im Mund, weil in der Ukraine Prophylaxe oft unbekannt ist. Kinder haben manchmal begonnene kieferorthopädische Behandlungen. Hier ist der Konsens so, dass die Apparatur belassen wird, aber keine Kräfte mehr wirken sollen. Die Behandlung ruht also. Es gibt aber Fälle, wo es sinnvoll ist, Debonding und eventuell Retainer zu machen, weil die Behandlung nahezu fertiggestellt ist. Der Kostenunterschied zwischen einer ruhenden Behandlung und Debonding ist gar nicht so hoch, dafür ist das Thema Kieferorthopädie dann erledigt.


Welche Empfehlungen geben Sie Zahnarztpraxen für die Behandlung von Asylsuchenden?

Zwingend sind eine Planung und Etappierung. Dabei muss stets vom unbedingt Notwendigen hin zum eventuell Wünschbaren geplant werden und nur das Notwendige ausgeführt werden, solange die Patienten im Asylverfahren sind. Wiederum geben die Behandlungsleitlinien der VKZS gute Hinweise auf die notwendige Priorisierung. Wenn nicht bekannt ist, wie gut die Compliance eines Patienten ist, sollen Langzeitprovisorien gemacht werden. Bei offensichtlich guter Mundhygiene braucht es das nicht unbedingt. Wenn hingegen die Mundhygiene schlecht ist und schlecht bleibt, wird die Behandlung auch nicht über Langzeitprovisorien hinaus gedeihen. In solchen Fällen muss mit den Betreuern Rücksprache genommen werden, um abzuklären, weshalb der Patient nicht besser kooperiert. Wenn das kulturelle Verständnis fehlt, braucht es manchmal Übersetzer, welche in beiden Welten zuhause sind. Bei Patienten, die an parodontalen Erkrankungen leiden, muss zuerst die Compliance optimiert werden. Neben optimaler Mundhygiene müssen weitere Faktoren wie beispielsweise das Rauchen oder das Kauen von Betelnuss eliminiert werden. Dann gelten strenge Kriterien zum Erhalt der betroffenen Zähne in Abhängigkeit vom Attachmentverlust; diese evidenzbasierten Richtlinien halten sich an das realistisch Erreichbare, nicht an das optimale Behandlungsziel.


Mit welchen Schwierigkeiten muss bei der zahnärztlichen Versorgung von Asylsuchenden gerechnet werden?

Oft besteht eine sprachliche und kulturelle Barriere. Die Mehrzahl der Asylsuchenden kennt das Konzept der Prophylaxe in der Schweiz nicht, sie gehen erst bei Schmerzen zum Zahnarzt und müssen daher oft Radikallösungen in Kauf nehmen. Gelegentlich ist eine grosse Diskrepanz zwischen der Wunschvorstellung der Patienten und dem Machbaren vorhanden. Das liegt sowohl am oben Gesagten wie auch an den Leitlinien der VKZS.

Wie gut kennen die Asylsuchenden die Möglichkeiten einer optimalen Mundhygiene?

Es ist mir ein grosses Anliegen, dass vermehrt Mundhygieneinstruktionen bewilligt und durchgeführt werden. Der Zusammenhang zwischen Karies, Parodontose oder Mundgeruch und ihren Lebensgewohnheiten und ihrer Mundhygiene ist den meisten Asylsuchenden nicht bewusst. Bei Kindern kann hier eine Weichenstellung für den Rest des Lebens geschehen und damit auch ihr Selbstwertgefühl gesteigert werden.


Was ist besonders bei Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen?

Kinder und Jugendliche sind im Asylwesen allen anderen Kindern mehr oder weniger gleichgestellt. Eine gewichtige Ausnahme ist die Kieferorthopädie. Sie ist nicht statthaft, wobei bei Schulkindern oft die Schulbehörden eigene Reglemente der Schulzahnpflege erlassen haben, welche kieferorthopädische Behandlungen reglementieren. Zudem gelten hier auch die Bestimmungen der IV, sodass bei gravierenden Zahnfehlstellungen eine Behandlung ermöglicht wird. Bei Kleinkindern, die womöglich noch nicht behandlungswillig sind, ist das Abwägen von Behandlungsoptionen etwas schwieriger. Praktisch immer kommt eine Sprachbarriere hinzu, sei es mit den Erziehungsberechtigten, sei es mit dem Kind selbst. Hier ist eine Behandlung eventuell unter Sedation oder mit Lachgasanalgesie durchführbar. Nur als allerletzte Option darf eine Behandlung unter Narkose geplant werden. Die Kosten sind derart hoch, dass sie normalerweise nicht gerechtfertigt sind. Grundsätzlich soll die Indikation zur Extraktion bei einem Kleinkind weiter gefasst und einer langwierigen und risikobehafteten konservierenden Behandlung vorgezogen werden. Bei Kindern mit Status N soll unbedingt Rücksicht genommen werden auf ihre prospektive Zukunft. Werden sie voraussichtlich in der Schweiz bleiben, soll die Behandlung anders sein, als wenn sie bald in ihr Heimatland zurückkehren müssen, wo die dentalen Möglichkeiten eventuell ganz anders sind.

Was raten Sie Zahnärzten und Zahnärztinnen, die den Überblick darüber verloren haben, was sie machen dürfen und was nicht?

Ich empfehle ihnen, im Zweifelsfall bei der zuständigen Stelle anzurufen. Ein Telefonat kann Ärger und Enttäuschung vermeiden. Die Mitarbeitenden des kantonalen Sozialdienstes, die für das Asylwesen zuständig sind, wollen helfen und nicht verhindern. Sie können die Anfrage weiterleiten, wenn die Frage ihre Kompetenzen übersteigt. Die Behandlung von Asylsuchenden ist nicht immer einfach, aber seien wir uns bewusst, dass diese Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben hierhergekommen sind.

 

Bildquelle: Jacob Lund/Shutterstock.com


Die Schweiz unterscheidet anerkannte Flüchtlinge (Ausweis B), vorläufig aufgenommene Flüchtlinge (Ausweis F), vorläufig Aufgenommene (Ausweis F), Asylsuchende (Ausweis N) und Schutzbedürftige (Ausweis S).

Anerkannte Flüchtlinge gelten gemäss der Genfer Konvention als Personen, die in ihrem Heimat- oder Herkunftsstaat wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen ihren politischen Ansichten ernsthafte Nachteile erleiden. Als ernsthafte Nachteile gelten Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken.

Vorläufig aufgenommene Flüchtlinge erfüllen die Flüchtlingseigenschaft. Diese Situation ist aber erst durch ihre Ausreise aus dem Heimatstaat oder wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden. Vorläufig Aufgenommene sind Personen, deren Asylgesuch abgelehnt worden ist. Die Aus- oder Wegweisung kann aber nicht vollzogen werden. Asylsuchende sind Personen, die in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt haben und sich im laufenden Asylverfahren befinden.

Schutzbedürftige sind Personen, die vom Bundesrat aufgrund bestimmter Kriterien zu «Schutzbedürftigen» erklärt worden sind. Ihre Aufnahme erfolgt ohne Asylverfahren rasch und bis der Schutzbedarf entfällt. Es handelt sich um eine befristete humanitäre Aufnahme von Gruppen, bei denen die Flüchtlingseigenschaft nicht überprüft wird.


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