Herr Sekulic, warum ist die Zahngesundheit gerade bei Menschen mit Querschnittlähmung eine besondere Herausforderung?
Huch! Die komplexeste Frage gleich zum Start… Die Antwort hängt stark von der Ursache, Höhe und Art der Querschnittlähmung ab.
Bei Paraplegiker:innen sind die Beine von der Lähmung betroffen. Sie können also ihre Arme und Hände ohne Einschränkungen benutzen. Lässt man mögliche Medikamenteneinflüsse weg, ist die Herausforderung dieselbe wie bei Menschen ohne Querschnittlähmung: Motivation!
Eine Ausnahme stellen in dieser Gruppe jene Patient:innen dar, bei denen es infolge eines Unfalls auch zu Verletzungen der oberen Extremitäten gekommen ist. Diese sind per Definition zwar Paraplegiker:innen, deren Arme von der Querschnittlähmung nicht betroffen sind, können ihre Hände aber dennoch nicht voll einsetzen. Ausgeprägter und stets der Fall ist dies bei Menschen mit Tetraplegie. Die eingeschränkte Arm- und Handmobilität erschwert das Aufrechterhalten der Mundhygiene und der Zahngesundheit.
Bei einer sehr hohen Verletzung des Rückenmarks oder bei einer fortschreitenden Erkrankung (Multiple Sklerose, Amyotrophe Lateralsklerose, Hirnhautentzündungen etc.) können die Hände zunehmend weniger bis gar nicht verwendet werden und die Patient:innen sind auf fremde Hilfe angewiesen. Die Herausforderung für die Pflegenden ist nicht nur die Mundhygiene, sondern auch die Tatsache, dass bei den Betroffenen der Schluckreflex beeinträchtigt ist oder gar fehlt, Spülen nicht möglich ist oder die Mundöffnung stark eingeschränkt sein kann.
Was sind häufige Probleme oder Erkrankungen im Mundbereich, die bei querschnittgelähmten Menschen öfter auftreten?
Vor allem bei Tetraplegiker:innen, wo sowohl Arme als auch Beine von der Lähmung betroffen sind, werden die Zähne als Hand-Ersatz verwendet. Sei es, um Handschuhe anzuziehen oder gar zum Öffnen von Flaschen. Die Handschuhe werden regelmässig und zu jeder Jahreszeit gebraucht, um die Hände beim Rollstuhlfahren zu schützen. Und bei den Flaschen sind es bestenfalls PET-Flaschen und im etwas ungünstigeren Fall Bierflaschen. Es ist selbsterklärend, dass unser Kauapparat nicht für diese Art der Beanspruchung konzipiert ist.
Ein weiteres Problem stellen wiederkehrend auftretende Spastiken dar. Während dieser Phasen krampfen einzelne Körperteile bzw. der ganze Körper, was häufig von Zähneknirschen oder -pressen begleitet wird. Ebenfalls können chronische Schmerzen zu Zähneknirschen führen. Bei den erwähnten Ursachen werden die Zähne stärker beansprucht, was zu Frakturen und einer übermässigen Abnutzung führen kann. Aber auch die Kiefergelenke werden überbeansprucht, was in Kiefergelenksschmerzen und -knacken resultieren kann. Der Ansatz, die Krampfanfälle resp. Schmerzen in den Griff zu bekommen oder sie zumindest abzuschwächen, erfolgt mittels Medikamente. Beide Medikamentengruppen (Muskelrelaxantien und Schmerzmittel) beeinflussen aber oft den Speichelfluss und führen zu mehr oder weniger ausgeprägter Mundtrockenheit. Die Folge davon ist eine erhöhte Kariesinzidenz.
Die Karieshäufigkeit ist aber auch zum Teil der Tatsache geschuldet, dass, sollten die oberen Extremitäten ebenfalls betroffen sein, eine optimale Mundhygiene nur schwer erzielt werden kann. Selbst wenn Pflegende diesen Teil der Körperpflege übernehmen, darf nicht unterschätzt werden, wie anspruchsvoll es ist, jemandem die Zähne zu putzen.
Welche Rolle spielt die Mundhygiene bereits in der Frührehabilitation nach einem Unfall?
Das Ziel ist wie im gesamten Rehabilitationszyklus auch beim Thema Mundhygiene, dass die Patient:innen diese nach dem Austritt selbst durchführen und auf dem höchstmöglichen Niveau halten können. Während der Erstrehabilitation wird in Zusammenarbeit mit der Dentalhygienikerin und dem Team der Ergotherapie versucht, eine auf die jeweilige Patientin bzw. den jeweiligen Patienten optimierte Mundpflegetechnik zu finden und einzuüben. Es gibt keine Patentlösung. So werden individuell angepasste Hilfsmittel hergestellt, um beispielsweise das Halten einer elektrischen Zahnbürste zu ermöglichen. Man kann sich eine Art Handschuh mit verschiedenen Klettverschlüssen vorstellen, in dem die Zahnbürste fixiert wird. Diesen können die Betroffenen überstülpen und entweder mit dem Daumen der Gegenhand, oder eben auch hier mit den Zähnen anziehen.
Es wird stets das Optimum angestrebt. Also auch die Zahnzwischenraumreinigung. Aber auch da gilt: Je höher der Lähmungsgrad, desto anspruchsvoller wird es.
Oft ist es ein Ausprobieren. Manchmal findet sich rasch eine Lösung und zeitweise muss mehrmals angepasst und nachjustiert werden. Da ist stets Kreativität aller Beteiligten gefragt. Auch nach über 20 Jahren im SPZ habe ich nicht ausgelernt.
Glücklicherweise bietet die Industrie immer ausgeklügeltere und bessere Hilfsmittel, welche im Fachhandel erworben werden können und sowohl die Betroffenen wie auch die Pflegenden unterstützen.
Welche technischen oder organisatorischen Hürden gibt es bei der zahnärztlichen Behandlung querschnittgelähmter Patient:innen?
Die Höhe der Hürde hängt rein praktisch von der Möglichkeit des Transfers ab. Können die Patient:innen auf den Behandlungsstuhl transferieren oder transferiert werden, läuft die Behandlung im gewohnten Rahmen ab. Sollte die Behandlung aber im Bett (in der Regel nur während der Rehas) oder nur im Rollstuhl möglich sein, steigt der Schwierigkeitsgrad. Zum einen muss der Raum infrastrukturell und logistisch so ausgelegt sein, dass die Patient:innen im Bett oder mit dem Rollstuhl zufahren können, dass der Zahnarzt auf die benötigten Instrumente zugreifen und die Dentalassistentin mit der Absaugvorrichtung den Mund erreichen kann. Das Röntgengerät muss entweder mobil sein oder einen genügend langen Schwenkarm haben, damit es zum Patienten reicht. Und je weniger Kabel sich am Boden befinden, desto effizienter und sicherer läuft die ganze Behandlung ab.
Das Stichwort und gleichzeitig der Knackpunkt ist «Ergonomie». Für alle Beteiligten ist die Behandlung im Rollstuhl herausfordernd. Auch bei elektrischen Rollstühlen, welche Sitzhöhe und/oder Position der Rückenlehne verstellen können, ist die Arbeitshöhe oft nicht ideal und der Abstand zum Kopf des Patienten ist teilweise aufgrund der Stuhlkonstruktion vergrössert. Nach einem Tag mit zahlreichen Querschnittgelähmten ohne Transfermöglichkeit melden sich beim Team am Abend Rücken und Knie.
Organisatorisch fällt patientenseitig, sollten sie darauf angewiesen sein, die Planung von Rollstuhltransporten an. Seitens des Behandlers stellt sich öfter als bei nicht querschnittgelähmten Patient:innen die Frage nach allfälligen Medikamenten und die Abklärung der Finanzierung der Behandlungskosten. Ist die Patientin Selbstzahlerin, kommt die Krankenkasse oder die Unfallversicherung für die Kosten auf oder wird über die Ergänzungsleistungen abgerechnet? Der administrative Aufwand ist nicht zu unterschätzen, zumal die Situation der Garanten ändert oder nicht klar getrennt ist.
Wie kann die Zahnpflege nach der Entlassung aus der Reha weiter gesichert werden?
Im Idealfall kehren die Patient:innen wieder zu ihrer angestammten Praxis zurück, wo sie in einem regelmässigen Intervall zur Kontrolle aufgeboten werden. Dort werden sie von erfahrenen Kolleg:innen und deren Teams betreut. Bei Fragen oder Unklarheiten findet der Austausch mit uns statt. Da es keine Panazee gibt, benötigt jede Patientin und jeder Patient eine Individuallösung. Wir versuchen so gut wie möglich, mit Rat und Tat beizustehen.
Sollte die Privatpraxis aber nicht rollstuhlgängig und auch keine in der Nähe auffindbar sein, kommen die Patient:innen für die Routinekontrollen zu uns. Wir sind stets bestrebt, die Termine so zu planen, dass sie mit anderen Therapien kombiniert werden oder während der jeweiligen «Rerehas» stattfinden können. «Rerehas» bezeichnen Rehas nach der Erstrehabilitation, bei denen z.B. der Rollstuhl optimiert, die Blasenfunktion geprüft, allfällige Schmerzpumpen justiert oder die Physiotherapie intensiviert wird.
Welche Rolle spielen speziell ausgestattete Praxen, z. B. rollstuhlgängig oder mit spezieller Infrastruktur?
Es wäre wünschenswert, wenn die Dichte rollstuhlgängiger Praxen höher wäre. Vielfach sind die Praxen zwar intern rollstuhlgängig, aber der Zutritt in das Gebäude erfolgt über ein, zwei Stufen. Auch wenn das Gebäude über einen Lift verfügt, stellt sich die Frage, ob dieser gross genug ist. Ist die Lifttür breit genug? Verfügt die Praxis über eine rollstuhlgängige Toilette? Hat es in der Nähe Parkplätze für Rollstuhlfahrer? Als Fussgänger ist man zu wenig sensibilisiert und erkennt die Stolpersteine nicht auf Anhieb.
Erfreulicherweise wird bei Neubauten vermehrt darauf geachtet, dass sowohl der Zugang als auch die Praxisinfrastruktur rollstuhlgängig sind. Stichwort: Barrierefreiheit. Sollte aber der Transfer auf den Behandlungsstuhl nicht möglich sein, wird es auch in modernen Praxen schwierig, da die Anschaffung von zusätzlichen mobilen Absauganlagen oder mobilen Röntgengeräten nicht rentabel ist. Insbesondere wenn diese nicht regelmässig zum Einsatz kommen.
Ohne Hand in den Mund: Welche konkreten Strategien für Zahnpflege gibt es für Patienten ohne Handfunktion?
Und wieder der Satz: «Es gibt keine Patentlösung.» Im Grundsatz ist die Strategie dieselbe wie für Menschen ohne Querschnittlähmung. Regelmässiges Zähneputzen, Interdentalraumreinigung und Verzicht auf übermässigen Konsum saurer und/oder zuckerhaltiger Getränke und Nahrungsmittel.
Sinnvoll ist in gewissen Fällen, das Intervall zwischen den zahnärztlichen Routinekontrollen bzw. der Dentalhygiene zu verkürzen. So können potenzielle Probleme frühzeitig erkannt und, sollte die Handfunktion lediglich eingeschränkt sein, das persönliche Hygienekonzept angepasst werden. Auch macht es Sinn, die abgegebenen Hilfsmittel regelmässig auf Funktionalität zu prüfen und gegebenenfalls zu optimieren.
Was schwieriger ist, ist der Ersatz von Medikamenten, um mögliche Nebenwirkungen zu vermeiden, konkret Mundtrockenheit. Sollte dies nicht möglich sein, ist es erstrebenswert zu versuchen, die Mundhöhle feucht zu halten, allenfalls auch künstlich.
Können die Hände gar nicht gebraucht werden, macht Instruktion Sinn. Sei es von Angehörigen oder von Pflegenden. Dies kann ebenfalls während der Besuche in der Praxis geschehen. Es ist nicht einfach, jemandem die Zähne zu putzen. Nicht selten werden in der Pflege andere Schritte priorisiert und alles geschieht unter Zeitdruck.
Wir organisieren im Schweizer Paraplegiker-Zentrum mit den Stationen regelmässig interne Workshops für Pflegende, wo Zahnputztechniken und Prothesenpflege instruiert und aufgefrischt, wie auch Fragen «von der Front» beantwortet werden können. Schön wären auch Refresher für andere Institutionen und Pflegedienstleister durch Fachpersonen. Diese finden zwar statt, aber mit unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität.
Was würden Sie Angehörigen oder Pflegenden empfehlen, die Betroffene bei der Mundpflege unterstützen möchten?
Allenfalls klingt es etwas gar einfach, wenn ich den Angehörigen empfehle, sich von Fachleuten beraten zu lassen. Am besten mit der bzw. dem Betroffenen die jeweilige Zahnarztpraxis besuchen und sich von Prophylaxeassistentin, Dentalhygienikerin oder Zahnärztin instruieren und Tipps und Tricks zeigen lassen. Wichtig ist es, auf die Wünsche und Rückmeldungen der Betroffenen einzugehen und keine Berührungsängste zu haben oder Furcht etwas falsch zu machen.
Dr. med. dent. Milos Sekulic
Leitung Zahnmedizin
milos.sekulic@paraplegie.ch
+41 41 939 58 72