
Professor Filippi, was passiert eigentlich genau mit dem Zahn, der Zahnwurzel und der Alveole, wenn ein Zahn bei einem Unfall vollständig herausgeschlagen wird (Avulsion)?
Der Zahn ist über sogenannte Parodontalfasern im Knochen verankert. Wird er ausgeschlagen, zerreissen diese Fasern. In vielen Fällen passiert an der Alveole, also dem Zahnfach, relativ wenig – der Zahn wird oft glatt herausgeschlagen. Aus rein biologischer Sicht ist dieser Unfall zunächst nicht schwerwiegend, für die Betroffenen ist er jedoch im negativen Sinne spektakulär. Die Prognose des Zahnes verschlechtert sich aber, sobald der Zahn ausserhalb des Mundes unsachgemäss behandelt oder falsch gelagert wird. In der Realität führt dies leider häufig dazu, dass die Zähne nach dem Wiedereinsetzen (Replantation) nicht mehr richtig einheilen und verloren gehen.
Warum ist es so wichtig, dass ein ausgeschlagener Zahn möglichst schnell in eine Zahnrettungsbox gelegt wird? Wie viel Zeit bleibt überhaupt?
Auf der Wurzeloberfläche befinden sich viele hochsensible Zellen. Wenn sie austrocknen oder falsch gelagert werden, sterben sie innerhalb kürzester Zeit ab – und das bedeutet in der Regel das Ende für den Zahn. Der Zahn muss deshalb so rasch wie möglich in eine Umgebung gebracht werden, die für diese Zellen lebensfreundlich ist. Idealerweise geschieht das in weniger als fünf Minuten.
Wie funktioniert eine Zahnrettungsbox – was ist in ihr drin, das den Zahn «rettet»?
Die Flüssigkeit in der Zahnrettungsbox ist zellphysiologisch, sie ahmt die Bedingungen im Knochen nach. Es handelt sich um ein High-End-Organtransplantationsmedium, wie man es auch für andere Organe verwendet. Es ist jedoch speziell auf die Zellen der Zahnwurzel abgestimmt und enthält zusätzlich einen Puffer, der trotz der vielen Bakterien, die mit dem Zahn in die Box gelangen, den pH-Wert stabil hält. So bleibt das Milieu für die Zellen über viele Stunden lebensfreundlich.
Wie lange kann ein Zahn in einer Zahnrettungsbox überleben, bevor er wieder eingesetzt werden sollte?
Eine Zahnavulsion ist ein echter Notfall, deshalb sollte der Patient oder die Patientin innerhalb von drei Stunden eine Zahnarztpraxis aufsuchen, am besten so schnell wie möglich. Neben Blutungen und Abszessen gehört die Avulsion zu den wichtigsten zahnmedizinischen Notfällen im bleibenden Gebiss. In einer Zahnrettungsbox kann der Zahn mindestens 24 überleben – deutlich länger als in jeder anderen Umgebung. Ein Farbindikator in der Box zeigt zudem an, wann der pH-Wert in kritische Bereiche absinkt.

Welche Chancen bestehen, dass ein Zahn nach einer Reimplantation tatsächlich wieder einwächst und erhalten bleibt?
Entscheidend ist die gesamte Rettungskette, also was mit dem Zahn ausserhalb des Mundes geschieht und wie er danach behandelt wird. Wichtig ist, dass er korrekt replantiert, richtig geschient und rasch wurzelkanalbehandelt wird. Sowohl die Erstversorgung als auch Weiterbehandlung können den Erfolg stark beeinflussen. Wenn alles optimal verläuft, – also rasche und richtige Aufbewahrung in der Zahnrettungsbox sowie professionelle Versorgung – liegt die Erfolgsrate bei fast 90 Prozent. Trotzdem gibt es Fälle, in denen eine Replantation nicht gelingt. Ungünstige Faktoren können ein höheres Lebensalter, zusätzliche grössere Begleitverletzungen in der Mundhöhle, eine unzureichende Mundhygiene in der Heilungsphase und allgemeinmedizinische Gründe sein.
Die Einheilungschancen hängen also auch massgeblich von der Qualität der zahnärztlichen Erstversorgung ab. Gehören solche Behandlungen denn zum Standardrepertoire in Praxen?
Zahnavulsionen sind in der Allgemeinpraxis selten, daher fehlt oft die Routine. Um Unsicherheiten zu vermeiden, gibt es für Zahnärztinnen und Zahnärzte die App AcciDent, die Schritt für Schritt durch das richtige Vorgehen führt – von der Replantation bis zur Nachsorge.
Gibt es auch Fälle, in denen man den Zahn gar nicht erst wieder einzusetzen versucht?
Ja. Milchzähne werden grundsätzlich nicht replantiert. Auch bei Zähnen mit fortgeschrittener Parodontitis marginalis, also wenn sie bereits durch Knochenschwund und Zahnfleischrückgang stark gelockert sind, ergibt eine Replantation keinen Sinn. Gesunde bleibende Zähnen hingegen versucht man immer zu replantieren.
Was sind die häufigsten Fehler, die passieren, wenn jemand versucht, einen ausgeschlagenen Zahn zu retten – und wie kann man sie vermeiden?
Der häufigste Fehler ist, dass der Zahn austrocknet oder jemand versucht, ihn zu reinigen oder zu desinfizieren. All das zerstört die empfindlichen Zellen auf der Wurzeloberfläche. Wichtig ist deshalb, den Zahn nach dem Unfall möglichst rasch zu finden, ihn nicht zu säubern, sondern sofort in ein geeignetes Medium – idealerweise eine Zahnrettungsbox – zu legen und rasch in einer Zahnarztpraxis oder entsprechende Klinik zu bringen.
Viele kennen noch den Tipp, den Zahn in Milch zu legen. Gibt es noch weitere alternative Aufbewahrungsmöglichkeiten? Was ist mit Speichel?
Kalte Milch ist tatsächlich eine Notlösung für kürzere Zeiträume, sie hält den Zahn etwa zwei Stunden am Leben. Ähnlich gut funktioniert Frischhaltefolie. In isotonischer Kochsalzlösung, etwa aus Kontaktlinsenflüssigkeit, überlebt der Zahn rund eine Stunde. Speichel hingegen ist ungeeignet, ebenso Wasser. Dieses lässt die Zellen platzen und Speichel enthält zu viele Bakterien, was für die Zellen auf der Wurzeloberfläche ungünstig ist. Die Zahnwurzel kommt im normalen Zustand nie mit Speichel in Kontakt, deshalb ist Speichel kein geeignetes Milieu. Will man den Zahn gar im Mund ‹aufbewahren›, läuft man ausserdem Gefahr, den Zahn zu verschlucken, weil es ja aus der Alveole eine ganze Zeit lang blutet und die Flüssigkeit entweder geschluckt oder ausgespuckt werden muss.
2011 wurden in Basel flächendeckend Schulen mit Zahnrettungsboxen ausgestattet, worüber Sie mehrfach in wissenschaftlichen Arbeiten berichtet haben. Wie lässt sich der Erfolg dieses Projekts messen? Läuft das Projekt in Basel noch?
Ja, das Projekt läuft bis heute. Alle Primarschulen im Kanton Basel-Stadt werden alle drei Jahre – entsprechend der Haltbarkeit der Boxen – mit neuen Zahnrettungsboxen ausgestattet. Wenn eine Box eingesetzt wurde, wird sie vorher ersetzt. Konkrete Erfolgszahlen gibt es aus Datenschutzgründen nicht, aber wir sehen anhand der Fälle, die zu uns ins Zahnunfallzentrum am UZB kommen: In allen Basler Schulen dauert es im Ernstfall keine fünf Minuten, bis der Zahn in der Zahnrettungsbox ist. Alle – von der Lehrperson über den Hauswart bis zur Schulleitung – wissen, dass es die Box gibt, wo sie sich befindet und wie sie zu verwenden ist.
Welche Faktoren tragen zum Erfolg solcher Projekte bei – ob in Basel oder bei der Aktion Zahnfreundlich? Welche Learnings lassen sich übertragen?
Das blosse Verteilen der Boxen reicht nicht aus. Entscheidend sind Information und Schulung aller Personen mit Verantwortung. Sie müssen wissen, wo die Zahnrettungsbox steht, und sie muss barrierefrei zugänglich sein. Nur wenn die Abläufe klar sind und der Zahn schnell im Nährmedium landet, kann das Projekt seinen vollen Nutzen entfalten.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft im Umgang mit Zahnunfällen und Zahnrettungsboxen in der Schweiz?
Ich wünsche mir, dass die zahnärztliche Erstversorgung bei Avulsionen und auch allen anderen Arten von Zahnunfällen bleibender Zähne schweizweit noch professioneller wird – dass Zahnärztinnen und Zahnärzte sich informieren, wie eine perfekte professionelle Erstversorgung funktioniert, und sich zumindest die AcciDent-App herunterladen und diese im Notfall auch verwenden. Dinge, die im Rahmen der Erstversorgung am Unfalltag nicht oder nicht richtig gemacht worden sind, kann man eine Woche später nie wieder korrigieren, weil nach einer Woche die Wundheilung abgeschlossen ist. Die Frage ist nur: Ist sie gut oder schlecht abgeschlossen.
Ebenso wichtig ist, dass Betreuungspersonen von Kindern und Jugendlichen wissen, dass es Zahnrettungsboxen gibt – und dass diese überall dort zur Verfügung stehen, wo Kinder und Jugendliche aktiv sind: in Schulen, Kindergärten, Schwimmbädern und Sportvereinen. In den Schulen sind wir auf einem guten Weg, aber in vielen Freizeitbereichen und leider auch in vielen Kantonen gibt es noch grossen Nachholbedarf.
Im Sommer 2025 integrierte Aktion Zahnfreundlich Schweiz Zahnrettungsboxen in die Semesterboxen für ihre Schulzahnpflegeinstruktor:innen.
Kurzweilige Videos und anschauliches Informationsmaterial zum Projekt finden Sie hier:
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