Fachperson im Interview zum Thema Zahnmedizinische Betreuung von Menschen mit Beinträchtigungen

Dr. med. dent. Willy Baumgartner (74) ist Gründungsmitglied, Vorstandsmitglied und ehemaliger Präsident (2016–2019) der SSGS. Seine eigene
Praxis, eröffnet 1979 in Zürich, hat er vor zwei Jahren übergeben. Seither arbeitet er noch zwei Tage pro Woche in einer Gemeinschaftspraxis und
betreut ein Pflegeheim in zahnmedizinischen Belangen.

 


Herr Dr. med. dent. Baumgartner, welche Zielgruppe ist gemeint, wenn wir von Patienten mit Special Needs sprechen?

Der  Zur Zielgruppe gehören Menschen jeden Alters – vom Kleinkind bis zum Hochbetagten – mit kognitiven, motorischen oder pathologischen Beeinträchtigungen. Diese können zu einer teilweisen bis vollständigen zahnärztlichen Behandlungsunfähigkeit und Mundhygieneunfähigkeit führen. Autonomieverlust oder Pflegebedürftigkeit fördern die Schädigung des Kauorgans, was mit einer Minderung der Lebensqualität einhergeht.

Bei Kindern unterscheiden wir zwischen angeborenen Schädigungen und erworbenen Beeinträchtigungen, die unter anderem durch Infektionskrankheiten wie Masern und Meningitis oder durch Unfälle verursacht werden. Kinder mit Intelligenzminderung und Autismus sind ebenso kaum hygiene- und behandlungsfähig.

Bei den Erwachsenen begegnen wir unterschiedlichen Situationen. Zum einen wohnen viele Personen in einer teilweisen bis vollständigen Abhängigkeit, weil sie mit den kognitiven und/oder motorischen Beeinträchtigungen aus der Kinderzeit weiterleben müssen. Anderseits behandeln wir Patienten, die geistig fit und autonom und nur körperlich eingeschränkt sind. Mit zunehmendem Alter verschlimmern sich meist chronische Leiden und Beschwerden am Bewegungsapparat wie Arthritis oder Spasmen. Sie erschweren die Zahnreinigung und verlangen oft starke Medikamente, welche die Speichelproduktion vermindern.

Im Alter verursachen bei gut 10 % der über 70-Jährigen oft mehrere chronische Erkrankungen eine Mulitmorbidität, verbunden mit der Einnahme zahlreicher Medikamente (Polypharmazie). Dieses pathologische Altern kann auch durch Ereignisse wie Berufsaufgabe, Partnerverlust, Schicksalsschläge oder cerebrale Insulte ausgelöst werden und zu Depressionen und Demenzen führen. Zum schwindenden Interesse an der Mundgesundheit gesellen sich die Nebenwirkungen der Medikamente wie Antidepressiva oder Psychopharmaka. Durch eine Unterbringung in einem Pflegeheim wird die zahnärztliche Betreuung und die Mundhygiene weiter erschwert und es entstehen Schäden am Kauorgan, welche die Lebensqualität in den letzten Lebensjahren stark beeinträchtigen.


Was sind die Herausforderungen in der Behandlung von Patienten mit Special Needs?

Die Priorität liegt klar bei der Mundhygiene. Mit Füllungen, Kronen, Brücken und Zahnextraktionen können die Schäden am Kauorgan infolge der Behandlungsunfähigkeit und Kariesaktivität schlecht behoben und die Lebensqualität nur vorübergehend verbessert werden. Je nach den kognitiven Fähigkeiten der Patienten besteht die Herausforderung darin, ihr Interesse für die Mundgesundheit zu wecken. Wir müssen ihnen mit Empathie begegnen und versuchen, ihnen ein positives Erleben der zahnmedizinischen Betreuung zu vermitteln. Ganz wichtig ist das Zusammenwirken von Pflegenden, Betreuenden und Angehörigen mit dem Zahnarzt und dem Prophylaxepersonal. Nur so ist eine tägliche Mundhygiene möglich. In Bezug auf die Behandlungsmethode ist es wichtig, möglichst schmerzfrei zu arbeiten, was Sedierungen und Narkose beinhaltet.

Was hat sich in den letzten Jahren in der zahnmedizinischen Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen verbessert?
Erfreulicherweise ist das Verständnis für die Bedeutung des Kauorgans und der Mundhöhle bei Pflegenden, Betreuenden und Angehörigen in den letzten zwanzig Jahren gewachsen; während sich bei den Fürsorgeämtern die finanziellen Möglichkeiten verbessert haben. Seit der Einführung des Begriffs der Inklusion gehen die Politik und die Soziologie besser auf die Anliegen von Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Positiv ist zudem, dass zunehmend mehr Anästhesiefachpersonen ambulante Narkosen in Zahnarztpraxen durchführen können. Diese Entwicklung konnte auch stattfinden, weil die Beatmungsgeräte und Sensoren für die Narkose viel kleiner und mobiler geworden sind.

Welche Kompetenzen sind beim Personal erforderlich?

Ideal ist, wenn das Praxispersonal Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen mitbringt, zum Beispiel in Form von spezifischen Weiterbildungen oder eines Praktikums in einem Pflegeheim. Man sollte geübt und geduldig sein im Umgang mit ängstlichen Kindern und demenziellen Patienten, um richtig mit ihnen kommunizieren zu können. Es bedarf eines ruhigen Tons und das fehlende Kurzzeitgedächtnis im hohen Alter muss berücksichtigt werden. Wenn man ins Pflegeheim gerufen wird, um eine Patientin mit Zahnschmerzen zu behandeln, kann es sein, dass sie ihre Schmerzen beim Eintreffen bereits vergessen hat.


Gibt es Erfordernisse in Bezug auf die Praxiseinrichtung?

Die Behandlungsräume sollten genügend gross sein, damit auch Patienten im Rollstuhl behandelt werden können. Es gibt Kopfstützen, die am Rollstuhl montiert werden und einen Praxisstuhl einigermassen ersetzen können. Genügend Platz ist auch für Begleitpersonen und das Anästhesiepersonal erforderlich. Zudem sollte die Praxis mit einem genügend grossen Lift erreichbar sein. Für Pflegeheimbesuche gibt es heute mobile Einrichtungen, die in einem geräumigen Auto transportiert werden können und im Vergleich zu früher günstiger geworden sind.

Welche Fortbildungsangebote gibt es für das involvierte Personal?

Die Schweizerische Gesellschaft für Alters- und Special- Care-Zahnmedizin SSGS hat sich zum Ziel gesetzt, mit Tagungen und Kongressen der Zahnärzteschaft, den Dentalhygienikerinnen, Prophylaxe und Dentalassistentinnen sowie dem Heimpflegepersonal Fortbildungen anzubieten. Gerade Themen wie Geriatrie, Psychiatrie oder Heilpädagogik kommen in der Zahnarztausbildung eher zu kurz. An den Jahrestagungen der SSGS gibt es eine grosse Vielfalt von Fachvorträgen aus Lehre, Forschung und Klinik. Auch unser jährliches Symposium in Bremgarten und Lenzburg bietet Kurzvorträge und Fallpräsentationen, um einen lebendigen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. In praktischen Kursen an der Universität Bern üben Instruktoren und Instruktorinnen mit Beeinträchtigungen mit den Teilnehmenden zum Beispiel, wie ein schwerbehinderter Patient möglichst schmerzfrei vom Rollstuhl auf den Zahnarztstuhl gesetzt wird. Oder man versetzt sich in die Lage von Blinden, indem man sich mit verbundenen Augen, Blindenstock und einer Begleitperson in der Stadt bewegt. Daneben werden an den Unis Genf und Zürich Kurse zur Zahnreinigung bei Schwerbehinderten angeboten.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Text bei gewissen Begriffen auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet und das generische Maskulinum oder Femininum verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter.

 


Weitere Artikel


Magazin Zahnfreundlich